13. Gelassenheit durch Lebenskunst
Gelassenheit bedeutet Gleichmut und innere Ruhe. Sie erzeugt die
Fähigkeit, vor allem in schwierigen Situationen eine Fassung zu bewahren. Die
Haltung der Gelassenheit rekurriert auf das epikureische und stoische „Freisein
von Unruhe“, Unerschütterlichkeit (Ataraxie) und
Gemütsruhe (Apathie), frei von Verwirrung und Aufregung, von Lärm und Getöse,
von Furcht und Schrecken. Gelassenheit stabilisiert das innere Gleichgewicht.
Martin Heidegger sagt, „dass sie (die Gelassenheit) erwacht, wenn unser
Wesen zugelassen ist, sich auf das einzulassen, was nicht ein Wollen ist“.
Gelassenheit ist häufig mit Vorstellungen über eine „Abkehr von der
Welt“ verbunden. Die philosophische Besonnenheit verwirklicht aber gerade keinen
Rückzug aus dem Lebenszusammenhang.
13.1. Gelassenheit zur Freiheit
Das Selbst ist gelassen und frei, wenn es der Macht anderer oder dem
Zwang der Situation nicht ausgeliefert wird. Nach Seneca hat die Gelassenheit
als „Seelenruhe“ durch „über sich selbst die größte Macht“. Diese
Selbstmächtigkeit nimmt einerseits das Widerstrebende, Üble, Schmerzliche und
Widerliche gelassen hin. Andererseits kann es das Angenehme und Lustvolle
mühelos loslassen, ohne sich daran „festzuklammern“. Das Ich soll in der Lage
sein, sich in bestimmten Situationen selbstmächtig und selbsttätig zu
vollziehen. Es verspürt weder Angst vor dem Unerwarteten noch ist es
eifersüchtig im Streben nach Alleinbesitz.
Selbstmächtigkeit darf nicht zu Selbstüberschätzung werden. Nach
Immanuel Kant „macht die Philosophie demütig in der Selbstschätzung und
bescheiden in der Schätzung der anderen“. Denn für Kant ist Philosophie
zetetisch, also suchend und fragend, ein „Unfertiges“. Gelassen
reflektiert man, indem man sich im Urteil zurückhält und nicht an eine starre
Wahrheit klammert, sondern versucht, die Sache entweder zu rechtfertigen oder
offen zu lassen, solange eine Entscheidung nicht möglich ist. So ist auch die
Lebenskunst stets „unterwegs“, weil das Kunstwerk des Lebens vieldeutig und
somit unfertig sein muss.
Gelassenheit zur Freiheit (Handeln einräumen mit Toleranz von
Fehlern und Brüche, andere Standpunkte berücksichtigen, Probleme hintanzusetzen,
wenn die aktuelle Situation nicht günstig erscheint, Leben als vieldeutiges und
unfertiges Kunstwerk auffassen, Selbstmächtigkeit mit Demut und
Bescheidenheit) wird bewertet, kommentiert und optiert, um die
Lebensführung „schön“ zu gestalten.
13.2. Gelassenheit gegen Wollen und Macht
Demut und Bescheidenheit werden ein absoluter Geltungsanspruch im
Willen und Handeln gegenüber anderen aus einem freiwilligen Verzicht aufgegeben.
„Kulturkämpfe in den neuzeitlichen Gesellschaften waren und sind
Spiegelungen von sozialen Konflikten, seien es Klassenkämpfe und
Geschlechterkämpfe, Reibungen zwischen Minder- und Mehrheitskulturen oder
Spannungen zwischen kirchliche Mentalitätsmächten und offensivem
Säkularismus“, meint Peter Sloterdijk.
Im Gespräch produziert häufig der „Wille zur Macht“ Gegnerschaft, um zu
„gewinnen“, und nicht, um gemeinsam eine Sache zu fördern. Man lässt sich nicht
ausreichend Zeit zur Klärung eines Sachverhalts, sondern redet mit
unterschiedlichen Einstellungen und Geltungsansprüchen aneinander vorbei. Die
Anerkennung des jeweils anderen als unabdingbare Voraussetzung der Sittlichkeit
wird untergraben; in Ethik und Moral sieht man nur eine Schwäche.
Das bloße Einrichten der vorgestellten Welt ist dagegen gekennzeichnet
durch eine Jagd auf die Zukunft; es will „gedachtes Gegenwärtiges in das
verhüllte Kommende verlängern und bewegt sich selber noch in der Haltung des
technisch rechnenden Vorstellens“, so Martin Heidegger. Das Sollen der Zukunft
in die Gegenwart projizieren zu wollen, ignoriert den Zufall und versucht, einen
Entwurf als ein Muss zu erzwingen.
Die Gelassenheit dagegen wartet, „wartet“ dem „(ent)gegen“,
was sich „entbirgt“. Gelassenheit verweigert sich
aktiv gegen Aktivismus und Voluntarismus und öffnet sich der Zeit und dem Raum.
Warten in der Ruhe ist alles andere als Passivität.
Gelassenheit gegen Wollen und Macht (auf eine Behauptung verzichten,
wenn sie ungeklärt erscheint, Voluntarismus und Aktivismus das diesseitige Heil
anstelle eines jenseitigen setzen, Überfluss der „Arbeit“ in hedonistische
Freizeitprogramme investieren, Gegnerschaft im Gespräch vermeiden, um eine Sache
gemeinsam zu fördern, durch moderne Wissenschaft und Technik Umarbeitung der
Welt um jeden Preis, Einholen eines Entwurfs aus der Zukunft in die Gegenwart,
um Zufall zu vermeiden, vereinbarte Termine später stornieren müssen) wird
bewertet, kommentiert und optiert, um die Lebensführung „schön“ zu
gestalten.
13.3. Gelassenheit einer postmoderner Kultur und Technik
In der Haltung der Gelassenheit möchte man zukünftig einen Gegenstand
der Gegenwart frei und in der Fülle seiner Eigenschaften beurteilen können, das
Tempo des Lebens reduzieren und Zeitdruck und Stress vermindern. Wer in
Gelassenheit entscheidet, kann um seine Zukunft unbekümmert sein. Denn wer sich
selbst und anderen Raum lässt und sowohl das eigene Wirkungsfeld wie das der
anderen fördert, achtet den Menschen in seiner freien Selbstbestimmung und
erfüllt damit die unabdingbare Voraussetzung der Sittlichkeit.
Wer sein Tun und Lassen ernsthaft zu rechtfertigen sucht, bildet sich
zu einer Persönlichkeit aus. Dazu gehört: Nicht auf seinem Geltungsanspruch
beharren, nicht um jeden Preis sich durchsetzen wollen, sondern Zeit haben für
andere und anderes, ihm Raum geben, Sinn haben für alles, was anders sein
könnte. Als Persönlichkeit gewinnt man ein Selbstbewusstsein, in dem sich das
Bewusstsein der eigenen Würde und im Absehen von sich die Menschenwürde aller
anderen manifestiert.
Gelassenheit in der ästhetischen Lebenskunst entsteht überall dort, wo
wir lernen, auf den richtigen Zeitpunkt des Handelns zu „warten“. Will man
zwanghaft ein Ziel erreichen, wird häufig manipuliert und solange „verdreht“,
bis das Ergebnis stimmt. Heidegger empfiehlt, Gegenstände, die wir unumgänglich
brauchen, zu bejahen, aber „wir können zugleich ‚nein’ sagen, insofern wir ihnen
verwehren, dass sie uns ausschließlich beanspruchen und so unser Wesen
verbiegen, verwirren und zuletzt veröden“. Er warnt vor bloßer
Technikgläubigkeit. „Unser Verhältnis zur technischen Welt wird auf eine
wundersame Weise einfach und ruhig.“ Die Technik entbirgt
danach Gefahr, denn Heidegger verbindet Hölderlins Gefahr, aus der Rettendes
entwickelt. Wenn sich die Moderne in der Kehre lichtet, soll die Gefahr das
Wesen des Selbst retten. Dieses Rettende entstünde dann aus der Kehre aus der
Gefahr – zu sich selbst! Wie aber kann man für sich selbst und im Mitsein mit
den anderen die Kehre erfahren, damit das gefährdete Leben sich in eine anderen
Qualität wenden kann? Die Antwort lautet – Gelassenheit. Vielleicht meint
Heidegger ähnliches, wenn er formuliert „dass sie erwacht, wenn unser Wesen
zugelassen ist, sich auf das einzulassen, was nicht ein Wollen ist“.
Gelassenheit für eine postmoderne Kultur und Technik (Abhängigkeit von
der Technik befreien, Tempo des Lebens reduzieren und Zeitdruck und Stress
vermindern, selbst und andere in ihrem Wirkungsfeld fördern, Vermeidung der
Technikgläubigkeit, Heideggers gilt „das Ich das Nicht-Wollen will!“) wird
bewertet, kommentiert und optiert, um die Lebensführung „schön“ zu
gestalten.